Der Tote auf der Straße – Kurzgeschichte

Meine erste Leiche habe ich mit 7 Jahren gesehen, ganz unverhofft, auf dem Weg zur Schule. Ich war gerade in die 2. Klasse gekommen. Die Grundschule lag nur 10 Minuten zu Fuß von unserem Wohnhaus entfernt und erst ein paar Wochen zuvor durfte ich den Weg zum ersten Mal alleine gehen. Das Wohngebiet im Duisburger Süden grenzte direkt an ein großes Gelände der Stahlindustrie. Ich bog kurz davor links in die Straße ein, um weiter zur Schule zu gehen. Und an dieser Kreuzung lag er dann, mitten auf der Straße und bewegte sich nicht. Daneben ein Krankenwagen und ein mit blauem Licht blinkender Streifenwagen. Ein Polizist und zwei Sanitäter standen nur da und redeten oder warteten, ich weiß es nicht. Jedenfalls beugte sich niemand zu dem Motorradfahrer runter, der dort lag und sich nicht bewegte, als würden sie ihn gar nicht beachten. Aber ich beachtete ihn. Wie angewurzelt sah ich auf den in schwarzer Lederkluft gehüllten Körper, der Helm befand sich noch auf dem Kopf. Das Motorrad selbst war einige Meter weiter an den Straßenrand gerutscht. Wenn ich nun zurückblicke, versuche ich meine Gefühle zu rekonstruieren. Ich spürte keine Angst damals, keinen Schock oder Verstörung, es war vielmehr eine Art von Faszination. Später in der Schule erzählte ich meinen Freunden von meiner Beobachtung und alle versammelten sich um mich und hörten mir zu. Je öfter ich die Geschichte in den kommenden Tagen erzählen sollte, desto mehr Details entsprangen meiner Fantasie und machten den Unfall an der Kreuzung zu einem hochspannenden Erlebnis, fast wie eine Szene aus einem Hollywood-Streifen. Aber schon bald gingen wir wieder zu anderen Themen über. Spätestens als mein Kumpel Jan nach dem Frühstück in den Klassen-Papierkorb gekotzt hatte, war der Unfall wieder vergessen. Doch ich würde noch knapp drei weitere Jahre an dieser Kreuzung vorbeilaufen und an den Körper auf der Straße denken. Ein paar Wochen danach entdeckte ich ein kleines Holzkreuz, das an der Stelle, wo das Motorrad gelegen hatte, aufgestellt wurde. Davor eine rote brennende Kerze, wie man sie auf Friedhöfen sieht. Und dazu ein Bild eines jungen erwachsenen Mannes, der in die Kamera lacht. Auch hier empfand ich keine Traurigkeit. Es war mehr ein Gefühl von Entdeckergeist. Ich entdeckte das Leben. Und das Ende davon.
Das Wort „tot“ sagte mir etwas, aber der Tod war eher ein abstraktes Konstrukt für mich, über das ich mir keine Gedanken machte und welches mit keinem Gefühl beladen war. Keine Trauer, kein Schmerz, keine Angst. Der Tod war weit weg, auch wenn er direkt dort vor mir auf der Straße lag. In Verbindung zu mir setze ich ihn nicht und auch nicht in Verbindung zu Menschen, die ich kannte oder liebte. Als mich meine Mutter nach der Schule und nach meinem ausführlichen Bericht in die Arme nahm und meinen Kopf streichelte, habe ich das gar nicht verstanden. Ich brauchte keinen Trost. Doch ich genoss ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Außerdem duftete sie immer so gut, besonders wenn sie mir so nah war.
Zu dem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich meine zweite Leiche erst ganze 29 Jahre nach diesem Ereignis würde sehen müssen. Eine Tatsache, die rückblickend betrachtet, ein großes Privileg ist. Eine unbeschwerte Kindheit, ein friedliches Heranwachsen. Ich gehe in den Krankenhausflur und denke an damals. An ihre Wärme und ihren Duft. Und wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.