Tagtraumreisende – Prolog

Die erste Nacht verbrachten wir zusammen, ohne uns zu kennen. Ich lag auf der unteren Matratze eines Etagenbetts und starrte in die Dunkelheit. Das Ticken der Wanduhr ließ mich nicht schlafen. Wie viele Gäste sie wohl schon einmal abgehängt und in den Flur verbannt hatten? Vom anderen Etagenbett nahe der Tür hörte ich nichts mehr. Die Engländerin mit den schulterlangen, braunen Haaren schien friedlich zu schlafen. Sie hat die gleiche Frisur wie ich, dachte ich, als ich ihr am Abend auf dem Flur begegnet war. Nur irgendwie war ihr Haar gehorsamer. Und im Bett über ihr: ihre Freundin. Auch von dort kein Geräusch. Stille, als wäre ich mit der Wanduhr allein. Einmal pro Minute wanderte der große Zeiger, den ich nur schwach erkennen konnte, einen Anschlag weiter. 0.36 Uhr. Ich drehte mich auf die Seite und zog die dicke Decke hoch bis zum Kinn. Unerwartet gemütlich hier, dachte ich und schloss die Augen.

Tick. 0:37 Uhr. Genau in dem Moment drückte sich die Klinke nach unten und jemand schob die Tür ganz langsam und vorsichtig auf, um möglichst wenig Lärm zu machen. Dabei ist dieses „in die Länge ziehen, um leise zu sein“-Ding ein Trugschluss. Wurde mal bei Galileo mit Gummibärchentüten im Kino getestet und gemessen. Das Geräusch ist bei beiden Varianten, langsam oder schnell, genauso laut. Nur, wenn man beherzt und schnell reingreift, ist es eben viel kürzer und dadurch weniger störend. Aus dem Flur fiel Licht in den Raum. Mit blinzelnden Augen beobachtete ich einen Mann, der sich ins Zimmer schlich, die Tür hinter sich schloss und auf mein Bett zukam. Ich tat, als würde ich schlafen. Dann kletterte er die Leiter an meinem Fußende hinauf und ohne ihn weiterhin sehen zu können, vernahm ich die Geräusche, wie er seinen Pullover und seine Hose auszog. Die Helligkeit seines Handydisplays warf diffuses Licht in den Raum. Seine Bettdecke raschelte. Ein paar Minuten später wieder Stille. Ich hörte auf meinen Atem, der plötzlich so laut wirkte, als atmete ich Sauerstoff aus einer Pressluftflasche. Und ich bekam das unlogische Gefühl, die Luft anhalten zu müssen, als dürfte niemand wissen, dass ich hier bin. Dann drehte ich mich auf die andere Seite und blieb hellwach.

Neben meinen Schlappen vor dem Bett lehnte mein Rucksack mit der Taschenlampe und dem Notizbuch und allerhand anderem Kram, der im Augenblick lediglich im Weg war. Ich griff nur hinein und wühlte nach diesen beiden Dingen. Dann zog ich die Decke weiter über den Kopf und knipste darunter die Taschenlampe an. Eine kleine Höhle nur für mich, Privatsphäre im Vier-Bett-Zimmer. Der Kugelschreiber klemmte an der Seite des letzten Eintrags. Ich überlegte und schrieb dann:

1. Verschwundene Stadtgeräusche.

2. Das bizarre Bild der Touristenmassen, die ihre Kameras synchron auf ein Loch im Boden richten.

3. Bettwäsche, die draußen im Regen zum trocknen hängt.

Bei Punkt 2 musste ich schmunzeln. Denn nur kurz nachdem ich mich über diesen Anblick amüsierte, stellte ich mich selbst dazu. Und lachte, als ich vor Staunen vergaß, auf den Auslöser der Kamera zu drücken, als die Wasserfontäne des Geysirs in die Lüfte schoss.

Ich hatte mir vorgenommen, jeden Tag drei Dinge zu notieren, die mich glücklich gemacht hatten. Und auch, wenn ich manchmal keine Energie oder Lust haben würde, die Erlebnisse der Reise festzuhalten, drei Stichworte würde ich schon hinkriegen. Heute zum Beispiel würde es wohl bei diesen drei Punkten bleiben. Dann blickte ich gedankenverloren auf die noch zu füllenden weißen Seiten und stellte mir vor, wie die blaue Tinte des Stifts in wenigen Stunden weitere Worte formen und das Papier wie von Zauberhand färben würde.

Doch was ich am darauffolgenden Tag eintragen würde, konnte ich zu dem Zeitpunkt natürlich nicht wissen. Und auch nicht, wer dieser Unbekannte war, der nur einen knappen Meter über mir lag. So nah, dass ich seine Bewegungen spüren konnte und, wenn ich mich darauf konzentrierte, auch seinen Atem hören. Ich blätterte zurück auf die erste Seite und las mir selbst gedanklich meine Erlebnisse vor, bis meine Augenlider schwerer wurden und auch ich in dieser Nacht endlich etwas Schlaf finden konnte.

2 Kommentare

  1. Hallo Meike,
    mein Name ist Alexandra und bin verzweifelt auf der Suche nach deinem Roman „Tagtraumreisende“.

    Meine Suche blieb bisher erfolglos.
    Vielleicht hast du noch ein Exemplar übrig bzw. einen Tipp, wo ich das Buch finden könnte.

    Viele Grüße
    Alexandra

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