Nr. 62 – Kurzgeschichte

Heute waren die Wolken rosa. Nicht so, wie sie sind, wenn man im siebten Himmel schwebt, wie die Leute sagen, sondern wirklich wie die Farbe. Rosa die Wolken und himmelblau der Himmel. Wieso teilt man diese Farben immer den Geschlechtern zu? Sind Mädchen wirklich mehr wie Wolken und Jungs wie Himmel? Manchmal denke ich schon und das sage ich, obwohl ich ein Mädchen bin. Oder vielleicht gerade deswegen. Bald wird es eine Farbe geben die Wolkenrosa heißt, es wird zum feststehenden Begriff, wie Grasgrün oder Sonnengelb. Oder eben Himmelblau. Aber irgendwann muss ja mal was Neues her, muss sich jemand gedacht haben und hat die Welt heute anders angemalt.

Hast du Lust ein Stück mit mir zu gehen? Über das Feld auf dem irgendein Zeug wächst, das aussieht wie langes Gras, aber sicher keins ist. Wenn der Wind drüber weht bekommt man das Gefühl, als wäre es flüssig und die Grashalme bewegen sich wie Meereswellen. Bis dahinten will ich laufen, zu der Baumgruppe, die von hier, aus der Ferne betrachtet, nur daumengroß ist. Dahinten will ich mich fallen lassen und dann bin ich weg von dieser Welt, irgendwo im Nichts zwischen hohem Gras, niemand wird mich mehr sehen können, außer die Vögel, die ich von dort aus beobachten werde, wie sie durch all das Himmelblau und Wolkenrosa fliegen. Ich rede mit einem Grashalm, den ich gepflückt habe. Er nickt mir zu und so nehme ich ihn mit.

Und dann laufe ich und laufe für eine ganze Weile und als ich schließlich da bin, wo ich vorhatte hinzugehen, stelle ich fest, dass ich dort gar nicht mehr weg bin als da, wo ich hergekommen war. Ich lasse mich trotzdem fallen, liege auf dem Rücken und schaue nach oben. Und schaue und schaue und denke nichts. Ich schaue und schlafe ein. Als ich aufwache hat mich ein Hund gefunden. Sein Besitzer pfeift, damit er zu ihm zurückkommt. Dann folgt er dem Pfeifen und läuft davon. Er hat meinen Grashalm gefressen. Tot umfallen soll er.

Wie bezeichnend das doch ist. In einem Feld voller, grobgeschätzt, Abermilliarden von Grashalmen sind zwei Wesen nur an diesem einen interessiert. Ich richte mich auf und gucke zum Horizont. Ich habe das Gefühl mich in einem Gemälde zu befinden. Und dann kommt der Maler und erhört mich, nimmt seinen Pinsel und malt alles schwarz, weil er diesen Anblick nicht länger ertragen kann. Und dann bin ich weg und die ganze Welt ist weg und der Maler verkauft das Bild für 125 000 Euro und nennt es Nr. 62.

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